Vieles in der Welt dreht sich um Gier. Aber besser ginge es ohne ihr. Eine Betrachtung zur Gentrifizierung in Stadtquartieren.
War es Wilhelm Busch? Oder Erich Kästner? Oder stammt der weise Spruch ganz einfach aus dem Volksmund? Egal. Munter ist der Satz, der zu seinem Ende aufs Vergnüglichste auf einen Reim hin gebogen wird, auf jeden Fall: «Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.»
Hier und heute möchte ich den Spruch etwas abändern: «Vieles in der Stadt dreht sich um Gier. Aber besser ginge es ohne ihr.» Das ich auf einen solchen frommen Wunsch komme, hängt stark zusammen mit der Internaut-Stadtstrassen-Serie «Starke Strecke», die einlädt auf Bummel-Touren durch Strassen, die (bisher) der Globalisierung trotzen.
Immer, wenn ich solche Strassen selber abschreite oder sie zuvor recherchiere, fällt mir eines auf: Starke Strecken sind in Gefahr. Das Übel, das ihnen droht, ist stets das gleiche.
Gentrifizierung: Die Aufwertung, die Alteingessesene abwertet
Das Übel geht so: Strassen, die sich abseits der globalisierten Welt wegen ihrer bezahlbaren Mieten lange Zeit einen guten Mix an lokalen und regionalen Restaurants, Läden und Kulturplätzen erhalten konnten, geraten zusehends in den Fokus von wohlhabenderen Menschen und Firmen, die auch dorthin ziehen wollen.
Dieser vermeintliche Sieges-Sog zeigt sich anfangs oft noch als durchaus erwünschte Aufwertung von Quartier und Strasse. Das Gebiet wird attraktiver, sicherer, charmanter.
Das Bild der Strasse ändert und erneuert sich. Ein neuer Coffeeshop taucht auf. Eine Galerie. Eine vegane Bäckerei. Ein Sushi-Take-Away. Noch ein Coffeeshop. Und noch eine Galerie.
Das alles zieht neue Leute an. Menschen und Firmen, die sich an dieser Strasse niederlassen wollen. Wird ja immer schöner hier. Und: Ist ja immer noch günstig hier.
Häuser werden verkauft und umgebaut. Die Mieten steigen. Die Gegend wird jetzt hip. Für die, die es sich leisten können. Was im Umkehrschluss aber auch heisst: Viele von denen, die es sich bisher leisten konnten, können das nun nicht mehr. Einkommensschwächere Menschen haben hier kein Auskommen mehr. Die bisherige ursprüngliche Community, die eingesessene Gemeinschaft, wird verdrängt.
Oder kurz: An der betreffenden Strasse, im betreffenden Quartier ist es zwar zu einer sichtbaren Aufwertung gekommen. Doch das wertet jene ab, die diese Gegend lange geprägt haben. Die Pioniere können sich die Gegend, die sie selber geprägt haben, nicht mehr leisten.
Urbaner Wandel: Starke rein, Schwache raus
Die Folge: Wirtschaftlich weniger starke Menschen, schwächere Haushalte und Shops werden durch wohlhabendere Firmen und Menschen verdrängt. Der Prozess dieser Entwicklung spielt sich meist in mehreren Phasen und Dimensionen ab.
Aber ab Erreichen eines gewissen Tipping Point – etwa, wenn die erste Starbucks-Filiale öffnet – gilt: So hip, it hurts. Die Strasse ist jetzt so angesagt und teuer, dass sie mit ihrer Fama jene verdrängt, die sich das nicht mehr leisten können. Der neue Schwung hat die Strasse für viele unerschwinglich gemacht.
Was Gentrifizierung in Wohnquartieren anrichtet
Diese Entwicklung, die man englisch Gentrification oder auf deutsch Gentrifizierung nennt, hat die Berliner Zeitung «taz» vor Jahren sehr anschaulich beschrieben. Im Extremfall kann das dazu führen, dass die Stimmung im Quartier gegenüber allem Neuen feindselig wird. Wer lange nur die Faust im Sack machte, pinselt diese auch auf Wände.
Da und dort treten Aktivisten auf, verwüsten Läden (auch solche von Händlern, die schon lange im Quartier sind) oder bringen frecherweise Schlösser an deren Eingangstüren an, sodass Ladenbesitzerinnen und -besitzer nicht mehr in ihr eigenes Habitat mehr hineinkommen.
Das Phänomen beobachtet der Internaut, in unterschiedlich starker Ausprägung, an jeder Starken Strecke. Und sozusagen an jeder Strasse, die künftig einmal in dieser Serie besprochen werden soll.
Die Folgerung daraus: Die (unerwünschte) Gentrifizierung ist die schwache Seite der Starken Strecke. Sodass ich mich bald einmal gefragt habe: Verstärkt meine Serie die schlechte Entwicklung sogar noch? Passiert hier etwas, das im Tourismus nicht ganz unbekannt ist? Dass der Reisende nämlich das, was er begehrenswert findet, am Ende selber zerstört? Dass Locals in ihrer Stadt nicht mehr wohnen und leben können, weil ihre Gegend blöderweise zu attraktiv geworden ist?
Gentrification in Stadtquartieren: Soziale Denkmalpflege?
Natürlich soll man die kleine Serie Starke Strecke nicht überschätzen. Nur wegen der Erwähnung einer Strasse werden nicht gleich Millionen von Menschen ausrücken und etwa den Carrer dels Carders in Barcelona, die Basler Güterstrasse oder die Bellenden Road in London zusätzlich überschwemmen. Und es ist nun mal so: Das Geld, das wir an Starken Strecken ausgeben, wirkt als Schmiermittel dafür, dass kultige Läden, Quartierbeizen, Cafés und Kulturtäter an ihrer Strasse bleiben können.
Jüngst meldeten sich im Schweizer «Tages-Anzeiger» Stadtforscher zu Wort. Sie machen sich anhand der Zürcher Langstrasse (von dort stammt auch das Titelbild für diesen Blogpost) stark für eine «soziale Denkmalpflege».
Die Idee dahinter: Genau wie man Gebäude schützt, könnte man in Zeiten der Gentrifizierung auch Menschen schützen, welche eine Strasse mit ihrer Anwesenheit, ihren Läden und Cafés zu dem gemacht haben, was sie heute ist.
Quasi eine Unterstützung für alle jene, die geholfen haben, eine «Starke Strecke» zu bauen. Man könnte damit, so die Idee, all das retten, was beim Zuzug von «Big Money» Gefahr läuft, weggefegt zu werden.
Folgen der Gentrifizierung: Galerie gegen Wasserloch
Das Problem der Gentrifizierung ist in der Humangeographie längst schon erkannt. Aber der Prozess mit dem Thema Schutz ist in der Praxis schwierig. Wer soll unterstützt werden, wer nicht? Wird mit solchen Massnahmen der freie Markt, auf den man sich in liberalen Ländern und Städten immer gerne bezieht, ausgehebelt?
Und falls ein Modell der sozialen Denkmalpflege wirklich eingeführt werden sollte: Welches Kulturangebot, welches angestammte Wasserloch darf einer neuen Galerie oder einem weiteren Grossverteiler geopfert werden – und welches nicht? Welche Beträge kann man einsetzen für die lebenserhaltenden Sofortmassnahmen einer Strasse?
Bis die soziale Denkmalpflege eingeführt wird, dürfte noch einige Zeit vergehen. Falls das überhaupt ins Repertoire der Politik Einzug halten wird. Was in der Zwischenzeit in der Stadtentwicklung sicher weitergeht: Die Gentrifizierung. Und ihre Folgen.
Strukturwandel in Stadtquartieren: So bleiben Starke Strecken stark
In der Betrachtung urbaner Phänomene darf man auch mal etwas naiv sein. Also komme ich zurück auf den frommen Wunsch vom Anfang. Wenn Immobilienbesitzer einmal die Gier etwas tiefer und das Gesamt-Biotop der Strasse etwas höher gewichten würden, wäre wohl schon viel erreicht.
Und was bedeutet das alles nun für die «Starke Strecke»? Nachdem ich in mich gegangen bin, habe ich entschieden: Die Serie geht weiter.
Newsletter abonnieren
Jede Woche die neuste Blog-Post des Internauten im Postfach. Du kannst den Newsletter hier abonnieren und jederzeit wieder abbestellen.
Zur AnmeldungAber ab sofort mit einem noch wacheren Auge für all das, was an diesen Strassen geschieht.
Und verbunden mit einem neuen Auftrag für alle, die mit mir zusammen neue Starke Strecken entdecken wollen: Nicht nur shoppen und schlemmen soll man an der Strasse. Sondern sie auch schätzen und schützen.
Lieber Andreas. Ganz stark, Deine tiefgründigen Worte am zweitletzten Tag zwischen den Jahren. Auf weitere spannende und starke Strecken im 2018! Guten Rutsch!