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Home 9 Tourismus 9 Overtourism: Alles über Dichtestress und Deppenzepter

Overtourism: Alles über Dichtestress und Deppenzepter

Datum

6. Juli 2018

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Do you speak Overtourism? Follow me ins Sprachlabor. Hier gibts die wichtigsten Begriffe und Learnings zum grossen Sommerthema im Tourismus.

Hoffentlich wirst Du in den kommenden Wochen nicht zu den Opfern gehören. Oder zu den Tätern des sogenannten «Overtourism».You know: Ich spreche von den unglaublichen Menschenansammlungen, die sich an den Hotspots der europäischen Hemisphäre ballen.

Daraus entsteht ein Dichtestress, der Dir die ganze Ferienfreude vergällen kann. Halte Dich fern davon!

Overtourism in Paris, eine riesige Menschenmenge vor dem Mona Lisa Bild im Louvre Museum

Overtourism im Louvre Paris. Da kriegt die Mona Lisa voll die Krisa. (Bild: Foundry)

Aber selbst wenn es Dich nicht an Destinationen wie das verstopfte Dubrovnik oder Barcelona, nach Amsterdam, Hallstatt, Mallorca oder in die Schweizer Stadt Luzern verschlägst, wenn Du nicht vor Mona Lisa oder im Louvre zu einem Nahtod-Erlebnis kommst: Es hilft, wenn Du die grundsätzlichen Mechanismen und Fachtermini des Overtourism-Phänomens verstehst. So kannst Du mitreden.

Was versteht man unter Overtourism?

Was ist das überhaupt, dieses vielerorts beschriebene Phänomen? Die gängige Definition von Overtourism geht so: Wenn es an stark besuchten Orten zu Konflikten zwischen Touristen und Einheimischen kommt. 

Ja, Artikel zum Overtourism-Phänomen gab und gibt es schon viele. Aber hier kommt Dein Basis-Vokabular, das zum intelligenten Stehgespräch in der Schlange zur Sagrada Familia oder beim Warten vor dem Stadttor von Dubrovnik taugt.

Übertourismus: Was ist ein «Deppenzepter»?

Ganz einfach: Ein anderes Wort für Selfie-Stick. Also jenes Gerät, das es dem Urlauber erlaubt, ein Smartphone auf einen Teleskop-Stab auszufahren und damit tolle Bilder (mit dem User als Hauptattraktion) zu schiessen.

Merke a) Andere schöne Wörter für dieses Tool sind: Ego-Stab, Vollpfostenstange und Swagantenne. Merke b) Wo immer sich Gruppen mit solchen Stangen hinbewegen, steigt die Gefahr des Overtourism.

Seit wann gibt es Overtourism?

Das Phänomen des Massentourismus hat natürlich schon vor ein paar Jahrzehnten eingesetzt. Es hat sich aber in den letzten paar Jahren – mindestens in Städten – durch drei Treiber akzentuiert: Die wachsende Reiselust in Riesenländern wie China und Indien.

Die boomenden Apartment-Plattformen wie Airbnb. Und die Kreuzfahrten-Branche, die an guten (oder schlechten) Tagen tausende von Passagieren ausspuckt.

Übertourismus: Instagram und Google Trends

Plus: Social-Media-Plattformen spielen natürlich ebenfalls eine Rolle. Stichwort Instagram: Für manche Aspekte des Reisens kann ich Insta durchaus positive Seiten abgewinnen. 

Für andere Menschen wiederum ist die grosse Bilderschleuder Insta hauptsächlich eines: Die Quelle allen Übertourismus-Übels.

Einen guten Einblick über gesellschaftliche Trends gibt Dir Google Trends. Diese Funktion zeigt auf, wie oft und seit wann verstärkt nach einem Wort gesucht wird.

Overtourism in der Google-Suche

Erst seit 2017 wird das Wort «Overtourism» verstärkt gesucht auf Google.

Der Chart verdeutlicht, dass die Suchwort-Karriere von «Overtourism» noch jung ist. Erst seit Ende 2017 wird verstärkt nach diesem Wort gesucht.

Die Daten stammen aus Deutschland, sehen aber für die Schweiz und Österreich ähnlich aus.

Wer ist schuld am Overtourism?

Einfach gesagt: wir alle. Es wäre wohl zu billig, wenn wir den Chinesen die Schuld daran gäben, dass sie auf ihrer ersten Europreise vor allem die Highlights wie den Louvre in Paris, die Sagrada Familie in Barcelona, Schloss Schönbrunn in Wien, die Bezirke Mitte und Friedrichshain in Berlin oder den Titlis in der Schweiz sehen möchten.

Als die Reiselust in unseren Breiten erwachte, funktionierten wir genau so. Und Hand aufs Herz: Wenn Du zum ersten Mal nach Australien reist. Willst Du dann zuerst eher namenlose Orte wie Goolwa, Coober Pedy oder Launceston besuchen? Oder vielleicht doch eher das Opera House in Sydney, das Great Barrier Reef oder den Uluru (Ayers Rock)? Eben.

Wie werde ich weder zum Täter noch zum Opfer?

Ein paar Tipps für Reisende habe ich mal in einem Blogpost mit dem Titel «So geht keiner unter im Overtourism» notiert. Wer sich tatsächlich in Ballungszentren wie Barcelona, Dubrovnik oder Venedig wagt, ist immer gut beraten, die täglichen Bewegungen der Kreuzfahrtschiffe zu studieren.

Internationale Cruise-Zeitpläne sind eine gute Adresse, Hier das Beispiel zu Venedig. Merke: Wenn an einem Tag fünf Riesenpötte anlegen, kann es eine gute Idee sein, das Hafengebiet grossräumig zu umfahren.

Overtourism: Wo ist es am schlimmsten?

Wie stark Overtourism als Plage empfunden wird, ist natürlich eine individuelle Sache. Es gibt ja auch Leute, die sich nirgendwo so wohl und zugehörig fühlen wie in einer hübschen Menschenballung.

Eine Art, sich dem Phänomen quantitativ zu nähern, ist der sogenannte «Tourism Density Index». Er misst das Verhältnis zwischen Touristen und Einheimischen. Also: Wie viele Touristen kommen auf einen Einwohner in einem Land.

Klar: Dieses Verhältnis fällt in kleinen Ländern oft extremer aus als in grossen Ländern. Gemäss dem aktuellen Index sind Kroatien, Island und Ungarn am meisten vom Overtourism betroffen.

Das Gegenteil von Overtourism ist der «Undertourism». Hier die Länder, die (bezüglich Verhältnis Touristen zu Einwohnern) am wenigsten gequält werden: Tansania, Papua Neuguinea, Kenia. Wobei es auch in diesen Undertourism-Countries Sehenwürdigkeiten geben dürfte, die unter Verstopfung leiden.

Wie geht es weiter mit dem Massentourismus?

Einfache Antwort: Es wird so weitergehen wie bisher. (Wenn nicht gerade, kleiner Einschub aus dem Jahr 2020, eine Pandemie wie Corona den Tourismus lahmlegt).

Danach wird dann aber wohl der Nachholbedarf wieder für die übliche Situation sorgen. Die üblichen verdächtigen Orte dieser Welt werden wieder von Reisenden überrannt und überreist. Spätestens dann braucht es neue Maßnahmen, um das pandemische Problem des Overtourism  zu bändigen.

Warum so pessimistisch?

Ich bin nicht pessimistisch. Sondern realistisch. Dafür sprechen nur schon die Zahlen der World Tourism Organization, die aufzeigen, dass der Reise-Boom anhalten und sich wohl noch verstärken wird.
Wobei man auch mal sagen muss: Tourismus, auch Massentourismus, muss nicht per se etwas Schlechtes sein.

Städte und Länder sollten aber in der Lage sein, mit innovativen Massnahmen die Touristenströme so zu lenken, dass sie nicht zur Plage für die Einheimischen, für Natur, Fauna und Fora werden. Und für die Touristen selber. Weil letztere sonst das kaputt machen, was erstere lieben. Und zweitere geniessen möchten.

Overtourism: Was kann man denn tun?

Neben den üblichen Mitteln zur Dämpfung der Nachfrage – Verteuerung der touristischen Angebote, Kontingentierung des Zugangs, Schranken mitten in der Stadt und Sperrung der Eintritte bei Überandrang – dürfte künftig wohl die Technologie eine grössere Rolle spielen.

Wenn Touristen auf ihren Smartphones in Echtzeit sehen könnten, wie sehr eine Sehenswürdigkeit oder ein Quartier belagert wird und wann die Zeit günstiger wäre, könnte das einen positiven Einfluss haben. Wie spannend solche Darstellungen daherkommen können, zeigt etwa diese bewegte Grafik zu einem ganz normalen Tag in Manhattan.

Gibt es ein paar coole Overtourism-Fachbegriffe fürs persönliche Repertoire?

Bittesehr. Immerhin ist Dir ja in diesem Blogpost ein Sprachlabor versprochen worden. Legen wir also los.
Wenn hochdekorierte Touristiker von schwer geplagten Overtourism-Zonen sprechen, benutzen sie oft das Wort «Flashpoint».

Geht es um die unselige Spirale aus zunehmendem Tourismus und steigenden Wohnkosten, der die Bevölkerung von Venedig aus dem Stadtzentrum vertreibt, spricht man vom «Venexodus». Drehkreuze, die in Städten  installiert werden, um den Andrang zu kanalisieren: «Turnstiles».

Die grosse Losung der Touristiker im Kampf gegen den Overtourism macht sich auch immer gut: «Spread the demand». Was bedeutet: Es müsste gelingen, den Touristen auch  Goolwa, Coober Pedy und Launceston beliebt zu machen. Nicht nur Opera House in Sydney, Great Barrier Reef und Uluru.

Overtourism: Nur etwas ist schlimmer 

Du willst noch mehr wissen? Okay. Dann schau Dir das aktuelle Positionspapier der europäischen Gastgeber-Union Hotrec zum Thema Overtourism an. Das macht Dich in wenigen Minuten zum Instant-Experten.

Kleiner Tipp an die männliche Hälfte der Erdbevölkerung: Bitte quält nun nicht alle Leute endlos mit Eurem neuen Overtourism-Wissen. Solches «Mansplaining» nervt alle Menschen rundherum.

Merke: Nur etwas ist in den Ferien noch schlimmer als Overtourism: Over-Zutexting.

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Eine unglaubliche Idee gegen das Übel

Was könnte man tun, wenn der Overtourism nach Corona wieder Einzug hält? Wenn Massnahmen wie Besuchseinschränkungen, Eintrittsgebühren, smarte Touristen-Steuerung nicht wirken?

Das hat sich ein weltweit bekannter Schweizer Wirtschaftsprofessor überlegt. Und ein Buch darüber geschrieben. Mehr zur verblüffenden Venedig-Idee von Bruno S. Frey kannst Du hier lesen.

Trevi Brunnen in Rom im Hochsommer mit einer riesigen Menge an Touristen, ein Beispiel für den grassierenden Overtourism.
Overtourism in extremis: Szene am Trevi Brunnen in Rom. (Bild: Shutterstock)

Natürlich ist Freys Idee ungewöhnlich radikal. Trotzdem lohnt es sich, darüber nachzudenken. Und sich dabei als Tourst wie auch als Mensch mal eine Frage zu stellen.

Ist Reisen ein Menschenrecht? Und wenn ja: Ist es auch dann noch ein Menschenrecht, wenn wir bei zu starkem Gebrauch dieses Rechtes die schönsten Orte dieser Welt kaputtreisen? Frei nach Hans Magnus Enzensberger, der schon weit vor Airbnb, Billigairline-Boom und Instagram erkannte: «Der Tourismus zerstört, was er sucht, indem er es findet.»

Persönlich finde ich das Zitat brillant formuliert, es ist mir aber etwas zu pessimistisch gedacht. Ich denke, dass es Wege gibt, die aus dem Übertourismus heraus führen. Wenn wir uns mit smarten Massnahmen auf den Weg machen.

Autor:in

Andreas Güntert

Andreas Güntert

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Seit 1994 erforscht und beschreibt Andreas Güntert hauptberuflich als kritischer Sympathisant der Wirtschaft die Schnittstellen von Konsum, Gesellschaft und Reise-Industrie. Als Reiseblogger der Internaut lotet er das Reise-Internet aus. Der Internaut ist ein Storyteller – unabhängig, munter, pointiert. Und immer seinen Leserinnen und Lesern verpflichtet.

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