Wer trägt welche Schuld am Overtourism? Und wie wird man als Tourist nicht zum Overtourist? Unternehmensberaterin Beatrix Morath weiss Rat.
In Barcelona skandieren Einheimische «Tourists go home» und spritzen Ferienreisende mit Wasserpistolen ab. Venedig plant die Verdoppelung der Tagesgebühr für Touristen.
Overtourism 2024 zeigt sich auch so: Auf den Kanarischen Inseln protestieren Einheimische gegen die von Touristen verursachte Verknappung von Wasser und Wohnraum.
Zwei Jahre nach Abklingen von Corona ist der grassierende Übertourismus wieder akut. Ein Problem, das weit über den gefühlten Dichtestress vor Ort hinausgeht.
Menschen, die an stark frequentierten Ferienzielen wie Mallorca leben, klagen per Protestkundgebung lautstark darüber, dass ihre Lebensqualität unter der neu erwachten Reiselust leidet. Beliebte Ferienorte werden quasi zu Tode geliebt. Die Folge: Massenproteste gegen unerträglichen Massentourismus.
Overtourism 2024: Verursacher und Lösungsvorschläge
Wer ist schuld an diesem Missstand? Und wie bekommt man das Problem des ungesunden Massentourismus mindestens ansatzweise in den Griff?
Darüber spricht der Internaut mit Beatrix Morath. Die Unternehmensberaterin kennt den touristischen Sektor à fond und bietet eine Einordnung zu Herausforderungen, Verursachern und Lösungen des Overtourism.
Frau Morath, hätten Sie damit gerechnet, dass der Übertourismus so schnell nach Covid wieder zum Thema wird?
Während der Pandemie hatten wir alle keine Ahnung, ob und wie es mit dem Tourismus überhaupt weitergehen würde. Aus dieser Optik würde ich sagen: Nein, ich hätte nicht damit gerechnet, dass uns der Overtourism so bald nach Corona schon wieder beschäftigen würde.
Die Chinesen sind noch gar nicht richtig zurückgekehrt auf die Tourismus-Weltbühne. Werden die Zustände dann noch intensiver?
Damit rechne ich. Mit jedem grossen Land, das über eine erstarkende Mittelschicht verfügt und seine Grenzen öffnet, wird das Thema akuter. Wir sind beim Overtourism noch lange nicht am Peak angelangt.
«Ein Angebot wie Airbnb zu verbieten, passt nicht in eine liberale Wirtschaftsordnung.»
Als Schuldige des Overtourism gelten in der Regel diese vier Hauptverdächtigen: AirBnB, die Kreuzfahrt-Industrie, die Billigflieger und Soziale Medien wie Instagram & Co. Welches ist der grösste touristische Treiber?
Ich sehe einen anderen zentralen Verursacher.
Welchen denn?
Am Overtourism sind wir alle schuld. Wir alle, die wir reisen. Wir alle sind Teil des Problems Overtourism.
Trotzdem: Wie werten Sie die Rolle von Airbnb, Kreuzfahrten, Billigfliegern und Instagram?
Jeder dieser Player verursacht sehr unterschiedliche Problembereiche innerhalb der Überschrift Overtourism. Airbnb verknappt den bezahlbaren Wohnraum, was für die lokale Bevölkerung zum echten Problem werden und Hassgefühle gegenüber Touristen wecken kann. Die grossen Cruiseliner sorgen dafür, dass Hafenstädte kurzzeitig von tausenden Menschen geflutet werden, die keinen nennenswerten monetären Beitrag zum Gedeihen der Destination leisten. Die Billigflieger ermöglichen es der Breite der Bevölkerung, günstig zu reisen, was zu grossem Andrang führt. Und Social Media führen dazu, dass auf einzelne Punkte ein sehr starker Run erfolgt. Auch hier wieder, wie bei den Kreuzfahrt-Landgängen, ohne nennenswerte Wertschöpfung vor Ort: Weil die Leute, die nur für ein Insta-Bild anreisen, gleich nach dem Knipsen schon wieder weg sind.
Zur Person: Beatrix Morath
Beatrix Morath ist Schweiz-Chefin der internationalen Beratungsfirma Alix Partners.
Für die Betriebswirtschafterin ist Touristik ein zentrales Thema. Bei Alix Partners leitet Morath den Bereich Restaurants Hospitality Travel & Leisure für den gesamten EMEA-Raum (Europa, Naher Osten, Afrika).
Grundsätzlich gilt: Es gibt nicht den einen Haupttäter. Und wer in Ihrer Liste fehlt, sind alle Behörden, die den Rahmen nicht schaffen, um an stark geplagten Destinationen klug einzuschreiten. Oder kürzer: Jeder Player leistet seinen Beitrag. Was im Umkehrschluss bedeutet: Das Overtourism-Problem lässt sich nur lösen, wenn jeder einzelne, der dabei eine Rolle spielt, zur Besserung beiträgt.
Wir sehen drastische Eingriffe: Eintrittsgebühren für den Eintritt in Venedig, geplantes Airbnb-Verbot in der Stadt Barcelona. Sind das die richtigen Massnahmen?
Auch hier wieder ist es so, dass man zunächst immer schauen sollte, welche Massnahme welchen Effekt erzielen soll. Ein Angebot wie Airbnb gleich zu verbieten, passt nicht in eine liberale Wirtschaftsordnung. Aber das Angebot so zu regulieren, dass die Wohnungsknappheit in der entsprechenden Stadt gelindert wird, schon. Eintrittsgebühren zu erheben ist meines Erachtens kaum zielführend. Die erhobenen Preise sind meist so tief, dass diese die Menschen nicht davon abhalten werden, eine Attraktion zu besuchen.
Was würde mehr bringen?
Effektiver wäre es wohl, ein Limit für die Anzahl Besucherinnen und Besucher schaffen. So wäre von Anfang an klar, wie viele Leute an einem gewissen Ort toleriert und tolerierbar sind.
Die Stadt Amsterdam will den Ausbau des Hotel-Angebots bremsen. Ist das eine umsichtig-nachhaltige Politik oder ein Wirtschafts-Abwürger?
Wie bei Airbnb finde ich, dass ein komplettes Verbot schlecht zu einer liberalen Wirtschaftsordnung passt. Die Behörden wären wohl besser beraten, wenn sie über das Massnahmen-Duo Motivieren/Sanktionieren aktiv würden. Was bedeuten würde: Kurzzeit-Apartmentvermietung und Hotel-Entwicklung so regulieren und besteuern, dass man mit den Einnahmen daraus in den Destinationen bezahlbaren Wohnraum schaffen kann.
Als bessere Massnahmen werden oft genannt: Touristiker sollen Nebensaisons stärker promoten und vermehrt B- und C-Ziele bewerben. Eine gute Sache?
Eine schöne Idee, doch bei Menschen, die mit schulpflichtigen Kindern unterwegs sind, funktioniert der Nebensaison-Effekt nicht. Sie können nur dann verreisen, wenn Schulferien sind. Wenn die Massnahme auf Singles und Pensionierte abzielt, kann es besser klappen.
«Wer Massnahmen ergreift, sollte zuerst wissen, welcher Effekt damit erreicht werden soll.»
Ähnlich verhält es sich mit einem verstärkten Fokus auf B- und C-Ziele: eine gute idee, die etwas bringen kann. Aber wohl nicht bei Menschen, die ihre Wunschdestination zum ersten Mal bereisen. Die wollen sicher die grossen Sehenswürdigkeiten sehen. Es ist auch beim Overtourism so wie bei anderen gesellschaftlichen Herausforderungen: Wer Massnahmen ergreift, sollte zuerst wissen, welcher Effekt damit erreicht werden soll. Und manchmal braucht es auch einen ganzen Strauss an Massnahmen.
Schweiz Tourismus will in einer im Sommer 2024 publizierten Studie herausgefunden haben, dass Overtourism in der Schweiz kein Problem sei. Wie sehen Sie das?
Das sehe ich auch so wie Schweiz Tourismus. Es mag in der Schweiz zwar zu gewissen Zeiten einzelne Overtourism-Hotspots wie Lauterbrunnen oder Iseltwald geben. Doch das sind eher zeitliche und punktuelle örtliche Engpässe, die man in ihrem Ausmass nicht mit den Zuständen in Dubrovnik, Amsterdam, Venedig oder Barcelona vergleichen kann.
Overtourism 2024: Ist das eine rein emotionale Sache oder mit welchen Messgrössen kann man den Tatbestand quantifizieren?
Es ist beides. Eine emotionale Sache, aber auch ein Missstand, der sich messen lässt. Wobei es nicht eine einzige Messgrösse gibt. Je nach Overtourism-Problematik kommen andere Parameter zur Anwendung. Bei der Wohnraum-Verknappung ist sicher die Entwicklung von Wohnkosten und Kaufkraft ein Indikator. Oder das Duo aus touristischer Wertschöpfung und Anteil der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben. Um den Overtourism überhaupt zu quantifizieren, bietet sich natürlich das Verhältnis zwischen Einwohnern und Besuchern an. Grundsätzlich muss man hier wohl ein ganzes Set an Messgrössen anwenden.
Verstehen Sie den Frust der Einheimischen, die an Protestkundgebungen auf Mallorca «Tourists go home» skandieren und auf die Wände ihrer Städte sprayen?
Zu einem gewissen Teil kann ich diese Frustration verstehen. Das passiert immer dann, wenn sich Menschen über Jahre nicht gehört fühlen. Wobei daran nicht immer nur die Touristen schuld sein müssen. Nehmen wir die Wohnraum-Verknappung durch touristische Kurzzeitvermietungen: Daran sind nicht nur die Reisenden beteiligt, sondern auch jene Leute, die ihre Immobilien vor Ort rein touristisch nutzen.
Oft gehörte These: Mit dem Klimawandel wird es in typischen Tourismusländern wie Spanien zwischen Einheimischen und Reisenden zu unschönen Verteilkämpfen rarer Ressourcen wie etwa Wasser kommen. Reale Bedrohung oder übertriebene Einschätzung?
Das ist eine reale Bedrohung. Die lokalen Behörden müssen aufpassen, dass es bei raren Ressourcen nicht zu einer einseitigen Bevorteilung der Touristen kommt. Nicht nur beim Wasser, sondern auch bei anderen Infrastrukturleistungen wie Strom. Und die lokalen Behörden müssen sicherstellen, dass Einnahmen aus Tourismus auch in eine Verbesserung der Infrastruktur investiert werden.
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Zur AnmeldungDer Schweizer Wirtschaftsprofessor Bruno S. Frey regte 2021 an, die Stadt Venedig nachzubauen und so Gästeströme zu kanalisieren. Utopie oder gute Idee?
In der Reinform eine Utopie, aber darin steckt ein guter Grundgedanke. Utopisch ist die Idee deshalb, weil eine Kopie halt immer nur eine Kopie ist. Also nie so interessant und prestigeträchtig wie das Original selber. Der gute Grundgedanke darin: Dass man neue Destinationen so entwickeln sollte, dass man dem allfälligen Overtourism von Beginn weg Rechnung trägt und entsprechende Massnahmen trifft.
Was könnten Reisende selber gegen den Übertourismus 2024 tun?
Touristen selber können einiges tun gegen den Overtourism. Indem sie mit Mass unterwegs sind, also zum Beispiel nicht nur für ein Bild nach Iseltwald am Brienzersee reisen. Oder indem sie die lokale Bevölkerung an ihren Ausgaben partizipieren lassen. Das heisst: Lokale Anbieter bevorzugen. Was aber auch voraussetzt, dass es an der Destination ein attraktives Angebot der lokalen Bevölkerung gibt. Nicht zuletzt können Touristen Übertourismus auch vermeiden, indem sie off-peak reisen.
Was bedeutet das?
Grosse Sehenswürdigkeiten nicht in den Hauptzeiten von 10 bis 16 Uhr besuchen, sondern dafür Randzeiten wählen. Das wirkt nicht nur gegen Overtourism, sondern verhilft auch zu weniger persönlichem Stress.
Wohin reisen Sie als nächstes?
Nach Island.
Und wie sorgen Sie vor, dass Sie auf dieser Reise weder Opfer noch Täterin beim Thema Overtourism 2024 werden?
Indem ich antizyklisch unterwegs bin und meist die frühen Morgenstunden nutze, aber auch vorbuche. Damit verursache ich keinen Dichtestress vor Ort.
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