Nach Corona kommt der Overtourism zurück. Davon ist Bruno S. Frey überzeugt. Der Ökonom regt per Buch an, Venedig und andere Hotspots mit neuester Technologie zu reproduzieren.
Zugegeben, das Wort Overtourism scheint schlecht in die Corona-Zeit zu passen. Die touristische Nachrichtenlage im Januar 2021 ist mehr als trüb. Statt krachend voller Hotels und überlaufener Plätze, Paläste und Pizzerias erleben die meisten Städte und Destinationen derzeit ein historisches Tief von Touristen.
Von Massentourismus keine Spur. Ganz im Gegenteil: Es herrscht ein Mass an Undertourism, wie es die Welt seit 50 Jahren nicht mehr gesehen hat. Gemäss der World Tourism Organization galt 2020 als schlechtestes Tourismusjahr aller Zeiten.
Venedig Tourismus: Eine Overtourism-Idee in Zeiten von Undertourism
Wenn das Coronavirus aber dereinst unter Kontrolle ist, werden wir sehr schnell zu den Zuständen zurückkehren, wie wir sie vor 2020 kannten.
Das jedenfalls prognostizieren viele Touristik-Auguren.
Die Experten sagen: Reiseziele wie Venedig, Dubrovnik, Barcelona, Mallorca oder das österreichische Hallstatt werden nach Corona wieder von übergrossen Touristenmassen heimgesucht und damit erneut zum Opfer des Overtourism.
Nach einer kurzen, Pandemie-bedingten, Verschnaufpause, gehe der touristische Wahnsinn aufs neue wieder los.
Venedig nachbauen: Die Idee des Bruno S. Frey
Auch Bruno S. Frey ist überzeugt, dass sich der Overtourism bald wieder zeigen wird. Gerade in Venedig würden die Kreuzfahrtschiffe bald wieder in Massen einlaufen.
Dazu kämen Millionen von Touristen zurück. Und damit der Massentourismus.
Politik, Glück, Kultur – Übertourismus
Der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Bruno S. Frey ist einer der meistzitierten Pioniere der Ökonomischen Theorie der Politik und der ökonomischen Glücksforschung. Ferner gilt Frey als führender Forscher im Bereich der Ökonomie der Kultur.
Jetzt lanciert Frey einen radikalen Vorschlag, um den Massentourismus oder Overtourism zu bändigen. In seinem Buch «Venedig ist überall – vom Übertourismus zum neuen Original» regt er an, die famose Lagunenstadt und andere Hotspots eins zu eins nachzubauen. Um so Druck vom Original zu nehmen. Damit sollen Gästeströme umgeleitet werden, um Dichtestress fernzuhalten von der Stadt, von Einheimischen und Touristen.
Einen Zwilling von Venedig errichten, bestückt mit allen Sehenswürdigkeiten – ist das wirklich der Ernst des renommierten Ökonomen? Soll aus Venezia ein Disneyland werden? Der Internaut fragt nach.
Allgemein sind Sie als einer der Pioniere der Glücksforschung bekannt. Warum ein Buch über Venedig und Overtourism?
Weil ich mich gerne mit Dingen beschäftige, die mich überraschen. Kurz vor Ausbruch der Pandemie war ich wieder einmal in Venedig. Und dort überraschten mich gleich zwei Dinge. Erstens: Wie komplett übertouristisiert die Stadt war. Und zweitens: Dass dies so überhaupt toleriert wird.
Dazu haben Sie ein Buch geschrieben und beschäftigen sich in «Venedig ist überall» mit dem Thema des Übertourismus. Der Zeitpunkt scheint unpassend – denn mit Corona grassiert nun weltweiter Undertourism.
Tatsächlich gab es in den letzten 500 Jahren scheinbar keinen falscheren Zeitpunkt für dieses Thema als jetzt. An Aktualität fehlt es aber nicht. Ich bin überzeugt: Nach der Pandemie werden wir sehr schnell wieder die gleichen Overtourism-Zustände haben wie zuvor.
Was macht Sie da so sicher?
Der Reise-Nachholbedarf ist riesig. Besonders junge Leute haben das Gefühl, sie hätten in der Pandemie das halbe Leben verpasst. Sobald sie wieder reisen können, werden sie das tun. Und damit wird auch der Overtourism wieder zum Thema.
In Ihrem Buch präsentieren Sie einen erstaunlichen Lösungsansatz. Man solle, kulturelle Hotspots wie Venedig identisch an einem anderen Ort kopieren. Was soll das bringen?
Da gibt es zwei hauptsächliche Aspekte. Erstens soll damit das tatsächliche Venedig entlastet werden. Zweitens sollte die identisch replizierte Destination – ich verwende dafür das Wort des «Neuen Originals» – so mit neuer Technologie ausgestattet sein, dass Besucher mit allen Sinnen eintauchen können darin. Der Ort müsste so gut gewählt sein, dass er von der Infrastruktur her problemlos zu besuchen ist – ohne die Überlastung, wie man es auch in Barcelona, Amsterdam, Dubrovnik und in anderen Übertourismus-Hotspots kennt.
«In meiner Vision müsste Venedig massstabsgetreu nachgebaut werden und nicht als blosse Casino-Kulisse auferstehen.»
Bruno S. Frey, Ökonom und Buchautor «Venedig ist überall»
Ein zweites Venezia: Ein Besuch mit Virtual-Reality-Brille und Datenhelm?
Das wäre wohl zu umständlich. Ich kann mir eher vorstellen, dass in einem solchen Neuen Original Hologramme zum Einsatz kommen. Es müsste ein komplett immersives Erlebnis sein, so dass man also beispielsweise in einem Venedig des 16. oder 17. Jahrhunderts herumspazieren oder den Karneval hautnah erleben könnte.
Ein nachgebauter Canal Grande – das kennt man aus Las Vegas. Ihr Vorbild?
Was man dort sieht, hat mit dem Original rein gar nichts zu tun. In meiner Vision müsste Venedig massstabsgetreu nachgebaut werden und nicht als blosse Casino-Kulisse auferstehen. Ein Vorgeschmack ist in Macao zu besichtigen: Dort wurde der Dogenpalast wirklich phantastisch nachgebaut. Mindestens die Fassade.
In der Regel raten Ökonomen und Vertreter der touristischen Wirtschaftswissenschaft, mit Maßnahmen wie Eintrittsgebühren und Beschränkung der Zutrittszahlen Druck von kulturtouristischen Hotspots wegzunehmen und so das Angebot zu verringern. Sie hingegen schlagen quasi die Ausweitung des Angebots vor. Weshalb?
Solche Massnahmen und Einschränkungen haben immer einen unfairen Charakter. Wenn nur noch zahlungskräftige Touristen Einlass erhalten, benachteiligt das alle anderen.
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Zur AnmeldungSelbst wenn dereinst irgendwo ein Venedig 2 stehen sollte – wollen Touristen nicht explizit the real thing sehen und entdecken, alss venezianische Original?
Statt «Venedig 2» ist mir der Begriff «Neues Original Venedig» lieber. Aber zurück zur Frage: Wenn die nachgebaute Lagunenstadt dem Original sehr nahe kommt und dabei von der Infrastruktur her mehr bietet – etwa optimale Plätze fürs obligate Selfie, leichte An- und Abreise und gutes Hotel-Angebot – dann kann es, auch durch all seine technologischen Finessen, für viele Touristen attraktiver sein als das sogenannte Original. Vor der Pandemie wurde Venedig an Spitzentagen von 130 000 Menschen besucht. Wenn sich dereinst 65 000 davon das Neue Original anschauen, wäre schon einmal viel erreicht. Kommt dazu: Einem reinen «Selfie-Touristen» würde das Neue Original vielleicht sogar besser gefallen als das Original. Weil der Nachbau einfacher zu besuchen ist.
Ihre Vorschläge sind noch radikaler: Im Buch regen Sie auch an, gleich ein halbes Dutzend italienischer Städte – Verona, Siena, Pisa, Padua, Bergamo und Vicenza – an einem Ort massstabsgetreu nachzubauen. Touristische Zwillinge im Multipack – meinen Sie das wirklich ernst?
Warum auch nicht?
Wenn wir zur kleineren Variante des Venedig-Nachbaus zurückkehren, drängt sich eine Frage an den Ökonomen auf: Was würde denn der Kulturerbe-Nachbau so in etwa kosten? In Schweizer Franken CHF, Dollar oder Euro?
Dazu habe ich keine Annahmen getroffen. Vielleicht müsste auch nicht die ganze Lagunenstadt nachgebaut werden. Alternativ könnte man sich auf eine identische Kopie der wichtigsten Merkmale konzentrieren. Im Falle von Venedig wären das der Dogenpalast, die Markuskirche, der Markusturm, die Rialtobrücke sowie jene Teile des Canal Grande, die von dort aus sichtbar sind.
«Wenn man gesehen hat, wie die Chinesen in wenigen Tagen ein ganzes Spital bauen können, dann müsste sich Venedig doch gewiss in einem Jahr nachbauen lassen»
Bruno S. Frey, Ökonom und Buchautor «Venedig ist überall»
Auch dieses Quintett ist immer noch eine monströse Investition. Wer sollte eine Motivation haben, so etwas bauen und finanzieren wollen? Venedig Tourismus in Kombination mit einem spendierfreudigen Milliardär?
Es würde wohl auf eine Public-Private-Partnership hinauslaufen. Also eine Zusammenarbeit zwischen einem Land und einem sehr tatkräftigen Unternehmer.
Darf man eine Stadt überhaupt einfach so tel-quel nachbauen? Oder gibt es da irgendwelche Copyrights, die das verbieten?
Es gibt sicher Verbote – deshalb glaube ich, dass eine enge Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden notwendig ist. Eine Public-Private-Partnership ist wohl angemessen.
Wie lange würde der Bau eines Fake-Venezia Ihrer Meinung nach dauern?
Wenn man gesehen hat, wie die Chinesen in wenigen Tagen ein ganzes Spital bauen können, dann müsste sich Venedig doch gewiss in einem Jahr nachbauen lassen.
Wo müsste das nachgebaute Venedig vernünftigerweise zu stehen kommen? Am ehesten wohl in Fernost, damit der Reise-Druck aus dieser Gegend etwas abnimmt? In China oder Indien vielleicht?
Weder noch. Am besten würde man eine Venedig-Replika in Italien aufbauen, damit möglichst viel vom Original-Ambiente des Landes zu spüren wäre. Idealerweise natürlich am Wasser, irgendwo an der Adria.
Ein «Neues Original Venedig» in Rimini oder in Cattolica?
Nein. Diese Orte haben schon ihren touristischen Stellenwert. Am besten stünde ein nachgebautes Venedig in einer italienischen Ortschaft ohne bekannten Namen. Also eine Gegend, die noch nicht auf der touristischen Landkarte steht.
Wäre ein solches Neues Original von Menschen bewohnt? Oder hat es bloss musealen Charakter?
Ja, das wäre prima, wenn die neuen Originale auch bewohnt wären.
Reicht eine einzige Replika? Oder wie viele Venedigs müssten es Ihrer Meinung nach sein, um bald aufs Neue entfesselten Overtourism zu bändigen?
Bezüglich Venedig reicht ein einzelnes Neues Original. Aber Dubrovnik braucht wohl auch eines.
Update 2024: Venedig führt Tagesgebühr für Touristen ein
Auch wenn es nicht zu den Massnahmen und Anreizen gehört, die Buchautor Bruno S. Frey befürwortet: Ab dem Jahr 2024 will die Stadt Venedig eine Eintrittsgebühr für Touristen einführen.
Besucherinnen und Besucher, die nur für einen Tagesausflug in die Lagunenstadt kommen, sollen dabei ab Frühjahr 2024 an 30 ausgewählten Daten einen Eintritt von fünf Euro bezahlen müssen. Mit dieser Gebühr soll Venedigs historisches Stadtzentrum besser vor dem Massentourismus geschützt werden.
Das Ticket, so hiess es im Herbst 2023 seitens der Stadtverwaltung, solle über eine Smartphone-App oder eine Website gekauft werden. Im Gegenzug erhalten Touristen eine QR-Code, den sie bei allfälligen Kontrollen vorzeigen müssen.
Tagestouristen, die sich um dieses Eintrittsgeld drücken und an den entsprechenden Daten kein Ticket vorweisen können, so hiess es, müssten mit einer Geldstrafe bis 300 Euro rechnen. Kinder unter 14 Jahren sollen von der neuen Eintrittsgebühr ausgenommen sein.
Venedig Tourismus: Einstufung als gefährdetes Welterbe?
Bevor die Neuigkeit eines Eintritts für Tagestouristen publik wurde, meldete sich auch die Unesco zum Thema Massentourismus in der berühmt-begehrten Lagunenstadt.
Offenbar zog man bei der UNO-Organisation in Betracht, Venedig den Status «gefährdetes Welterbe» zu verpassen. Später wurde das wieder zurückgezogen. Wohl auch deshalb, weil sich die venezianische Stadtverwaltung zur Massnahme mit dem 5-Euro-Eintritt durchringen konnte.
1987 wurden die Stadt Venedig und seine Lagune als Unesco-Weltkulturerbe anerkannt. Das war in Zeiten vor dem Overtourism. Gemäss jüngsten Zahlen fluten jährlich 30 Millionen Touristen die Stadt, in deren Kern noch etwa 50 000 Menschen leben.
Beatrix Morath: Freys Idee eine «Utopie mit gutem Grundgedanken»
Man kann von Bruno S. Freys Replika-Idee denken was man will: Mit seiner Prophezeiung, dass die touristischen Horden nach Corona zurückkehren werde, lag er absolut richtig. Was so auch für Italien und die Stadt Venedig gilt.
Nach der Pandemie kehrte das touristische Aufkommen schnell und in hohem Masse wieder zurück. Schon im Jahr 2023 schrieben die meisten Reiseveranstalter aufgrund der aufgestauten Reiselust wieder hervorragende Umsätze.
2024 konnte ich mit der Unternehmensberaterin Beatrix Morath zum neu aufgeflammten Übertourismus sprechen. Sie nahm dabei auch Stellung zur Idee des Bruno S. Frey.
Für die Schweiz-Chefin von Alix Partners ist Freys Vorschlag «in der Reinform eine Utopie, aber mit einem guten Grundgedanken». Wie sie das konkret meint und was sie zur Eintrittsgebühr von fünf Euro für die Stadt Venedig sagt, kannst Du im ganzen Interview mit Beatrix Morath hier nachlesen.
Es erscheint mir eher wahrscheinlich, dass man eine Art von Visier vor den Augen herunterklappt und virtuell sämtliche von Lonely Planet als Must-Ziele bezeichneten Orte in 3-D Vision besucht. Dabei spielen die Sponsoren Amazon und Just-Eat eigenes für uns personifizierte Produkte ein, welche der Internaut dann direkt bestellt. Warum soll man überhaupt noch verreisen? Dank Covid-19 muss man nicht einmal mehr die Arbeitsstelle aufsuchen – alles wird von zu Hause aus organisiert.
Danke für Deinen Input! Kann es wirklich sein, dass ein ehemaliger Reiseleiter anregt, gar nie mehr zu verreisen? Das wäre dann eine etwas trostlose Vision. Oder war da, was ich stark vermute, eine Prise Rolfito-Ironie im Spiel?
Mein satirisch angehauchter Input entstammt Beobachtungen aus meiner Umwelt. Die Leute werden immer träger – aber ihr sinnloser Konsum leidet nicht darunter.
Ah, muy bien, dann hab ich die feine Irone oder Satire also richtig rausgespürt!