Online einen geführten Stadtrundgang buchen, der keinen Preis hat. Die Reise-App Free Tour grassiert in Städten überall. Der Internaut war auf Probetour in Budapest.
Geführte Touren sind das Salz in der touristischen Suppe. Neue Orte im Schlepptau einer kundigen Person kennenlernen, gehört zu den Klassikern des Fremdenverkehrs.
Schon unzählige Male wurde ich durch Museen gelotst, per Hop-On-Bus durch Städte gefahren oder über schepprigen Bordfunk auf einem Boot über das Geschehen am Ufer informiert.
Manchmal war mehr, und manchmal weniger Salz in der Suppe. Aber etwas war bisher immer gleich: Die Führung hatte einen Preis. Und diesen Betrag musste ich vor Abreise bezahlen.
Für meine Stadtführung durchs jüdische Viertel von Budapest musste ich vorab keinen Cent abdrücken. Und einen Anfangsgruss wie in der ungarischen Hauptstadt hatte ich zuvor noch nie gehört: «Hallo Leute», sagte die junge Dame zu unserer gut 20-köpfigen Gruppe, «wir zischen jetzt mal zwei Stunden los. In der ersten Hälfte werde ich Euch mit Facts bombardieren.»
Zweiter Teil der Ansage: «Nachher wirds dann etwas lustiger. Und am Schluss reden wir übers Geld. Aber jetzt los ins jüdische Viertel von Budapest, mir nach!»
Free Tour in über 120 Städten aktiv
Ich war auf meiner ersten «Free Tour». Solche Stadtführungen, die ohne Preisschild daherkommen, gibt es seit 2014, und sie werden mittlerweile in Städten in über 120 Ländern angeboten. Per App sieht man sofort, wo man wann mitlaufen kann. Das Angebot ist nur schon in Europa riesig. Amsterdam und München, Berlin, Hamburg, Edinburgh – alles drin. Und noch viel mehr.
Da musste ich auch einmal mit. Um zwei Dinge herauszufinden: Was ist eine «kostenlose» Tour wert? Und ist das wirklich, wie der Name insinuiert, «free», also gratis? Plus: Werden da nur die üblichen Sehenswürdigkeiten im Stadtzentrum abgenudelt?
Oder liegt auch mal ein Blick und eine Erklärung mehr drin, erhält man auch mal einen Input zu Themen wie Kultur oder Architektur? Also kurz: Wie gut ist gratis?
Die Erfahrung lehrt uns Konsumenten2.0 ja folgendes: Alles, was scheinbar gratis ist, muss zum Schluss von irgend jemandem bezahlt werden.
Von Google wissen wir: Wir nutzen die Suchmaschine kostenlos, bezahlen aber mit unseren Daten. Von der Gratiszeitung ist bekannt: Sie liegt gratis aus in der Bahnhof-Box. Bezahlt wird das Blatt durch Inserate.
Den Kopierapparat und die Kapsel-Kaffeemaschine überlässt uns die Industrie fast kostenlos. Um danach bei Patronen und Kapseln kräftig abzusahnen.
Aber wer bezahlt letztlich für eine Gratis-Touri-Tour?
Der informative Wert der Free Tour
Zur Qualität der Free Tour durch die Straßen des jüdische Viertels von Budapest kann ich mich kurz halten. Weil sie gut war. Und weil die Dame Wort hielt.
Zuerst rollte sie, wie angedroht, die Info-Lawine aus. Dann folgte die anekdotische Passage, zwischendurch kam es immer wieder zu spontanen Fragerunden auf offener Strasse.
Keine Frage, die junge Frau hat etwas auf dem Kasten. Und sie schaffte es, in der Budapester Elisabethstadt den Blick unserer Gruppe zu schärfen. Nach oben, wo viele Wände im Graffiti-Stil gehalten sind.
Auf Free Tour fühlen sich Mittelalterliche zehn Jahre jünger
Und nach unten. Etwa vor der Grossen Synagoge, wo der Guerilla-Künstler Mihajlo Kolodko erst kürzlich eine Mini-Skulptur von Theodor Herzl angebracht hat.
Der Stammvater des Zionismus und Gründer-Geist des Staates Israel mit Bart und Velo – Kommentar unserer Free-Tour-Dame: «Herzl war der erste Hipster von Budapest.» Keine Frage: Unser Tourguide kennt ihren Kiez. Und ihre Klientel.
Die Teilnehmer der Gruppe waren im Schnitt so zwischen 20 und 30 Jahre alt. Das gut gelaunte Traveller-Segment auf Budget-Kurs, das sich gerne spontan austauscht und sich dabei auch über paneuropäische Spar-Strategien à jour hält.
Keiner will hier den Besserwisser spielen, man geht einfach mit, passt auf und streckt auch mal den Arm auf, wenn man eine Frage hat. Für Menschen mittleren Alters, die sich im Hotel gerne zehn Jahre jünger fühlen, ist das eine gute Ergänzung im Sightseeing-Bereich.
Ein Thema bei den Gästen, von denen die meisten schon mehrmals auf einer Free Tour waren: Soll vorab via App reservieren oder nicht? Was die Youngsters sagen: Reservieren sei nicht nötig. Auftauchen genügt.
Zahltag in der Ruinen-Bar
Natürlich kam auf der Führung die Wandlung des Quartiers nicht zu kurz. Die Strassen des jüdischen Viertel Budapests waren im Zweiten Weltkrieg trauriger Schauplatz von Juden-Verfolgung und Deportationen.
Und hat sich in den letzten Jahren zur Partymeile der Generation Easyjet gewandelt.
Nach zwei Stunden biegt die Gruppe ein in jene Strasse, die hier jeder Tourist besucht haben muss: Die Strasse, an der das Szimpla Kert liegt.
In der einstigen Ofenfabrik ist eine ganze Reihe von wild dekorierten Bars untergebracht, eine Rocky-Docky-Gastronomie in einem halb verfallenen Bau. Eine der zahlreichen Ruinen-Bars im siebten Bezirk von Budapest.
Free Tour: Feel free soviel zu zahlen, wie es dir wert ist
In der Ruinen-Bar jedenfalls, in einer schummrigen Ecke im zweiten Stock, baute sich die Gruppe ein letztes Mal im Halbrund auf. Zur finalen Ansage.
«Hoffentlich hat euch die Free Tour gefallen. Bitte bezahlt so viel, wie es euch wert war. Ich lebe davon.» Oder im Worldspeak der Traveller-Generation: «You’re free to pay what you feel the tour was worth. Please.»
Das also ist das Meccano der Free Tour: Man zahlt so viel, wie es einem wert ist. Die Bezahlung des Guide ist, wie es in der App heisst, tip based. Die Basis ist das Trinkgeld.
Vor der Tour hatte ich mich im Internet schlau gemacht zu den üblichen Preisen der üblichen Tours. Eine zweistündige Elisabethstadt-Führung kostet auf den gängigen Portalen etwa 30 Euro.
«Pay what you feel»: Ist die Reise-App Free Tour eine faire Sache?
Ein kleines Karton-Kistchen machte die Runde. Bald füllte es sich mit ungarischen Forint. In der Obolus-Box landeten meistens Noten, dazwischen auch mal Kleingeld.
Der typische Betrag lag bei etwa fünf Euro. Aus meiner Hosentasche fischte ich eine 20-Euro-Note heraus. «Ja, Euro wird akzeptiert», bestätigte unser Tour-Guide.
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Zur AnmeldungIn unserer Gesellschaft haben wir eine Obsession für Bio-Lebensmittel, für fairen Konsum und für einen Lifestyle entwickelt, der den Planeten nicht unnötig plagt.
Ist es da fair, ein solches «Pay what you feel»-Modell mitzuspielen?
Reise-App Free Tour: Was wertvoll ist, darf etwas kosten
Ich habe das bei einem Drink in der Ruinen-Bar überlegt. Und kam zum Schluss: Ja, das kann es sein. Weil man jungen Menschen so eine Möglichkeit gibt, ihre Leidenschaft auszuleben. Und sie damit zu einem niederschwelligen Einstieg in die Welt des Tourismus kommen.
Gleichzeitig kommt die Generation Easyjet eher mal auf eine Führung mit, wenn sie nicht gleich zwei ganze Tages-Budgets aufzehrt.
Doch das Modell nimmt auch den Kunden selber in die Pflicht. Es darf nicht als Billigsache angeschaut werden. Selbst wenn «free» darüber steht. Man soll sich anständig zeigen in der Schlussrunde. Auch deshalb, weil es da einen Spruch gibt, der älter ist als Google und alle Gratiszeitungen dieser Welt. Aber immer noch etwas Wahres hat: «Was nichts kostet ist nichts wert.»
Oder, in der Umkehrung für die Free-Tour-Welt: «Wenn eine Tour wertvoll ist, darf sie auch etwas kosten.»
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