Was braucht es, damit der Nachtzug sexy wird? Bahnreise-Profi Werner Schindler hat da so ein paar Ideen. Der Railtour-Chef skizziert einen Nachtzug der Zukunft, der konsequent von den Kunden her gedacht wäre.
War ich zu pingelig, war ich zu hart? Als ich kürzlich mit dem Nachtzug von Zürich nach Berlin reiste, war mein Erlebnis jedenfalls nicht makellos. Das Fazit im Konzentrat: Zu eng, zu wenig Erlebnis, zero Bahnromantik.
Liesse sich das nicht besser machen? Und wenn ja: wie? Dieser Frage gehe ich im Gespräch mit Werner Schindler nach.
Der Geschäftsleiter des Schweizer Bahnreise-Spezialisten Railtour* hat jede Menge Ideen, wie der Nachtzug der Zukunft aus Kunden einmal Fans machen könnte.
Werner Schindler sagt, wie sich Konzept, Angebot und Service in Europa dafür verändern müssten, ganz egal, ob man seine Tickets bei ÖBB, SBB oder DB kauft.
Herr Schindler, wenn Sie für eine Berlin-Reise die Wahl haben zwischen Flugzeug und Bahn – wie reisen Sie?
Geschäftlich oder privat?
Einmal geschäftlich, einmal privat im Urlaub.
Für einen Business-Trip mit engem Zeitplan würde ich wohl für beide Wege das Flugzeug nehmen. Auf einer privaten Reise in den Ferien für eine Strecke die Bahn und für die andere das Flugzeug.
Wann war der Railtour-Chef letztes Mal in einem Nachtzug unterwegs?
Wenn ich da kurz etwas ausholen darf. Ich bin ein Kind der 70er Jahre, und damals waren Reisen per Interrail das grosse Ding. Nachtzug-Reisen mag ich aus jener Zeit bis heute, weil man da so schön in den Schlaf buttelet wird.
Wie bitte?
Pardon, das war Berndeutsch. Mit «Buttele» ist gemeint, dass man in den Armen gewiegt oder geschaukelt wird. Also das Gefühl, dass sich beim Einschlafen im Nachtzug einstellt.
Wann hatten Sie dieses Buttele-Feeling letztes Mal?
Meine letzte Nachtzugreise ist drei Jahre her, das war in Schweden. Stärker in Erinnerung geblieben ist mir eine Fahrt im Nachtzug, die ich vor etwa acht Jahren von Berlin nach Lissabon antrat. Weil sie mit einem Erlebnis verbunden ist, wie es typisch ist für eine bahnromantische Reise.
Welches Erlebnis?
Unterwegs auf dieser Strecke war ich unter anderem, weil die Nachtverbindung zwischen Berlin und Lissabon – wie so viele andere zu jener Zeit – aufgehoben wurde. Da wollte ich ein letztes Mal dabei sein, auch wegen der Aura des damaligen Bestseller-Buches «Nachtzug nach Lissabon» von Pascal Mercier. Im Speisewagen auf der Fahrt von Berlin nach Paris traf ich am Abend auf ein Paar, das mit einer vollen Whiskyflasche dort sass. Als ich am Morgen zum Frühstück wieder ins Bordrestaurant kam, sass das Paar immer noch dort. Mit der Flasche, die nun leer war. Eine Geschichte, die mir in Erinnerung bleibt, Bahnromantik pur.
Auf meiner kürzlichen Nachtzug-Reise von Zürich nach Berlin verspürte ich null Bahnromantik. Vorherrschend war ein Gefühl der Enge, veraltete Hardware und der Eindruck, dass der Passagier nur als pausierende Einheit im Liegewagen vorgesehen ist. War ich zu hart in meinem Urteil?
Ich weiss, wovon der Internaut spricht. Und ich teile Ihre Meinung. Von Bahnromantik ist da wirklich wenig zu spüren.
Nachtzug der Zukunft: Konsequent vom Kunden her denken
Was läuft schief?
Klar, wir haben es aktuell mit alter Hardware zu tun. Bei diesem Rollmaterial sieht man, wie solche Züge früher konzipiert wurden. Meist ging es dabei um Bahn-Logik und Rendite-Gedanken. Es sollte aber anders sein: Züge und Nachtzüge ganz speziell müssten bezüglich Erlebnisgehalt konsequent vom Kunden her gedacht werden. Und diesbezüglich könnte man einiges sehr viel besser machen.
Was denn?
In der Regel wird Rollmaterial für die Bahnen so gebaut, dass es für alle Ewigkeit halten soll. Das halte ich für veraltet, weil die Einrichtung so über kurz oder lang schäbig aussehen wird. Beispiel Nasszellen: Schon vor 40 Jahren führte die französische Hotelgruppe Accor in ihren Günstighotels Toiletten und Duschkabinen ein, die aus einem einzigen Plastikguss bestehen. Ein solches Element lässt sich besser und einfacher reinigen als die Nasszellen, wie sie heute im Nightjet verbaut sind. Diese Plastik-Konstruktion kann man nach einer gewissen Dauer auch mal auswechseln. Aber die Hardware beim Europa-Nachtzug ist nur das eine Problem.
Was ist das andere Problem?
Dass er ein Image-Problem hat. Vielen Menschen kommen zum Nachtzug heute bloss diese drei Adjektive in den Sinn: Langsam, teuer, etwas schmuddelig.
Wie kann das Image verbessert werden?
Von Art und Zeitbegriff der Hardware haben wir schon gesprochen. Das andere Thema: Image, Look and Feel und Aufenthaltsqualität kann nur mit einer Steigerung des Erlebnisgehalts verbessert werden. Die Bedingungen dafür sind gut. Denn gegenüber dem Flugzeug hat der Zug unter anderem den Vorteil, dass Menschen unterwegs zu- und aussteigen können. Das könnte man nutzen.
Wie meinen Sie das?
Dass ein Nachtzug Gastronomie braucht, sollte klar sein. Ein Restaurant oder eine Bar, am besten beides. Nun kann in einem Nachtzug natürlich auch zusätzlich etwas passieren. Wie wärs mit Kochkurs oder Comedy-Bühne auf Schienen? Eine Figur mit dem Status eines regionalen Jamie Oliver könnte Spezialitäten zubereiten, welche von den durchreisten Gegenden stammen. Oder das Restaurant könnte für einen gewissen Reiseabschnitt auch zur Bühne umfunktioniert werden.
Auf der Strecke von Zürich nach Berlin wäre es dann also beispielsweise so, dass ein Kleinkünstler in Basel zusteigt und bis Mannheim Showtime bietet?
Etwa in dieser Art, genau. Wäre doch grossartig, oder? Mit Eintritt für diese Show-Einlagen könnte sich der Nachtzug auch eine zusätzliche Einnahmequelle schaffen. Darf ich noch einen Schritt weitergehen?
Bittesehr.
Man lässt sich im Zug ein Piercing stechen oder geniesst eine Wein-Degustation. Das Frühstück bestünde aus einem duftenden Brotkorb mit regionalen Spezialitäten, statt aus labbrigen Brötchen.
Klingt ja grossartig, wenn auch ein wenig verrückt. Aber würde das alles nicht die Reise verteuern?
Und wenn es so sein sollte – das ist kein Problem. Alle Untersuchungen zur Preissensitivität von Reisenden zeigen immer das gleiche: Wenn die Leute ihre Reisen buchen, sind sie sehr preissensibel, vergleichen verschiedene Angebote und versuchen, die günstigste Variante zu erwischen. Sobald die gleichen Leute aber unterwegs sind, öffnen sich ihre Portemonnaies. Es geht für den Nachtzug also darum, einen günstigen Basis-Preis anzubieten, und dann unterwegs mit Zusatzverkäufen ein Zusatzeinkommen zu schaffen.
Die Bahngesellschaften würden wohl einwenden, dass sie mit Event-Fläche und Showküche wertvollen Schlafwagen-Platz verlieren.
Das muss nicht so sein. Mir scheint, dass es möglich sein sollte, mit solchen neuen Eventflächen Ertragsströme zu schaffen, die grösser sind als die Verluste aus dem Schlafwagen-Geschäft. Man könnte zunächst einen Versuch wagen und einen typischen Schlafwagen zur Hälfte dem neuen Event-Business widmen. Was ich eigentlich sagen will, ist dies: Die heutige Haltung der Bahngesellschaften, die den Nachtzug-Gast nur als liegende Masse vorsieht, ist passé. Total passé.
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Zur AnmeldungDie ÖBB aus Österreich, die mit dem Nightjet die aktuellen Nachtverbindungen in Zentraleuropa betreiben, haben kürzlich die nächste Nightjet-Generation präsentiert, wie sie 2022 auf die Schienen kommen soll. Was ist Ihr Eindruck vom ÖBB-Nachtzug der Zukunft?
Live gesehen habe ich das noch nicht. Die Bilder geben mir den Eindruck, dass zumindest das Design zeitgemässer und so für das Auge attraktiver ist. Weil aber Gastronomie weiter keine Rolle spielt, sehe ich die Nacht als Kurzzeiterlebnis noch nicht.
Gibt es dazu Vorbilder?
Europäische Fähren beispielsweise machen das heute schon viel besser, sie positionieren sich als Mini-Kreuzfahrt mit grossem Angebot. Hier kann sich der Nachtzug Inspiration holen. Mit der Prämisse, auf allen Ebenen innovativer zu werden. Übrigens auch beim Thema Digitalisierung. Hier sind mir die Websites der Bahngesellschaften immer noch zu statisch. Da muss mehr kommen: Eine Buchung sollte in drei Klicks erledigt sein. Auf dem Handy ist heute eine Buchung noch viel zu kompliziert. Das muss einfacher werden, richtig easy eben.
Und so würde dann der Nachtzug der Zukunft aus der «Generation Easyjet» die «Generation Easytrain» machen?
Wenn dazu noch Gaming-Angebote kommen und installierte Kameras im Nachtzug Live-Übertragungen in die Sozialen Medien erlauben – dann stimmt der Kurs. Flächendeckendes WLAN in der Bahn müsste dabei ebenfalls selbstverständlich sein.
Nachtzug der Zukunft: Für private Anbieter kaum zu machen
Können Staatsbahnen so viel Innovation stemmen? Oder müsste der Push von privaten Nachtzugbetreibern kommen?
Da bin ich Realist. Es ist wohl unmöglich für private Betreiber, mit neuem Rollmaterial einen Platz in der bestehenden Infrastruktur und im bestehenden Fahrplan zu finden.
Noch eine Frage zum Preis: Ich bin mit der Bahn für 179 Euro nach Berlin gefahren, und für 100 Euro zurückgeflogen. Ist Bahnfahren zu teuer oder Fliegen zu billig?
Fliegen ist zu billig. Die Fliegerei müsste die Kosten für ihre Tickets selber tragen, inklusive Kerosin-Steuer und gesonderte CO2-Abgabe. Wie teuer eine Bahnreise ist, hängt letztlich auch von der Politik ab. Mit einem guten Mass an politischem Gestaltungswillen könnte der sogenannte Trassenpreis gesenkt werden, also die Kosten, welche die Staaten für Benutzung und Unterhalt der Bahninfrastruktur beschliessen. Wenn der Bahnverkehr aus gesellschaftspolitischen und Klimagründen gefördert werden soll, wäre eine Senkung des Trassenpreises ein guter Schritt.
Wie gefragt ist der Nachtzug bei Ihren Kundinnen und Kunden?
Sehr gefragt. Letztes Jahr waren die Plätze sehr oft ausverkauft. Die Nachfrage ist also da. Sie wäre noch grösser und würde viel breitere Kreise der Bevölkerung erfassen, wenn das Image des Nachtzugs besser wäre.
Bleibt die Nachfrage auch dann stark, wenn Zentraleuropa in eine Rezession schlittert und das Umweltthema kleiner werden sollte?
Davon bin ich überzeugt. Das Bewusstsein für das Klima ist gross. Und wird noch grösser werden.
*Werner Schindler, 60, ist Geschäftsführer des Schweizer Bahn- und Städtereisespezialisten Railtour sowie des Frankreich-Spezialisten Frantour. Beide Firmen gehören zur DER Touristik Suisse. Railtour beschäftigt in Bern und Genf rund 100 Personen.
Meine letzte Nachtzugreise führte mich nach Venedig im Frühling 2006. Ich war alleine im Abteil und am nächsten Morgen war all mein Bargeld weg. Wegen einer Begegnung bei einem nächtlichen WC-Gang bin ich bis heute überzeugt, dass der Reisebegleiter ein Komplize war.
Trotzdem werde ich wieder Nachtzüge nehmen, jetzt erst recht.
Herzlichen Gruss
Anita
OMG, von Diebstahl im Nachtzug höre ich immer wieder. War deshalb auf meiner Reise auch besonders vorsichtig, zum Glück ist nichts passiert. Finde es aber prima, dass Du dem Nachtzug die Treue hältst. Wie findest Du die Vorschläge von Railtour-Boss Werner Schindler? So ein Salsa-Tanzwagen täte Dir bestimmt passen, oder?