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Home 9 Bahnreisen 9 Benedikt Weibel: «Der Nachtzug ist heute leider blosse Symbolpolitik»

Benedikt Weibel: «Der Nachtzug ist heute leider blosse Symbolpolitik»

Datum

11. Dezember 2021

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Home 9 Bahnreisen 9 Benedikt Weibel: «Der Nachtzug ist heute leider blosse Symbolpolitik»

Der Nachtzug erlebt in Europa eine Renaissance. Viele jubeln. Benedikt Weibel nicht. Der Ex-Chef der SBB erklärt das Nachtzug-Problem.

Mobilität ist das grosse Thema von Benedikt Weibel*. Der Schweizer war lange Jahre Chef der Schweizerischen Bundesbahnen SBB und ist heute noch im Mobilitätssektor aktiv.

In seinem aktuellen Buch «Wir Mobilitätsmenschen» zeichnet Weibel die Mobilmachung der Menschheit auf, von der Erfindung des Rades über Eisenbahn, Auto und Flugzeug bis hin zu E-Bike und E-Scooter.

Benedikt Weibel, Buch Wir Mobilitätsmenschen, Interview Reiseblog Internaut
Liest sich gut, zum Beispiel im Zug: Das neue Buch von Benedikt Weibel. (Bild: Internaut)

Eine von Weibels zentralen Thesen: An erster Stelle müssten brachliegende Potenziale bestehender Verkehrsmittel genutzt werden.

Dabei sind für Benedikt Weibel der Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Digitalisierung besonders wichtig, wie der Mobilitäts-Pro kürzlich dem «Deutschlandfunk» sagte.

Benedikt Weibel: Der Bähnler kritisiert Nachtzüge

Eine kurze Erwähnung findet in Weibels jüngstem Buch auch der Nachtzug. Dabei behandelt der Bähnler die Transportform, die aktuell als Symbol der Klimabewegung eine Renaissance erlebt, auf ungeahnte Weise.

Kritisch nämlich, sehr kritisch sogar.

Nachtzug Zürich Amsterdam erste Fahrt 12. Dezember 2021
Nachtzug Premiere Zürich-Amsterdam: Erste Abfahrt am 12. Dezember, 21.59 Uhr. (Bild: Internaut)

Der Bähnler mit Leib und Seele setzt einige Fragezeichen beim Thema Nachtzug. Warum? Wohl auch deshalb, weil der einstige SBB-Chef das Thema gut kennt.

Ende der 80er Jahre gehörte Weibel zu den Mitinitianten des Nachtzuges City Night Line. Warum hat das damals nicht geklappt? Und was stört den Mobilitäts-Experten am aktuellen Hype um die Nachtzüge? Der Internaut fragt nach.

Benedikt Weibel Interview Nachzug Reiseblog der Intenraut.
Benedikt Weibel: «Beim Nachtzug muss man sich endlich vom Bett verabschieden.» (Bild: Michael Stahl)

Mit dem Fahrplanwechsel 2021/2022 kommt ein neuer Nachtzug von Zürich und Basel nach Amsterdam ins Bahnprogramm. Ist das eine gute Nachricht?
Grundsätzlich ist ein neues Angebot, das bezüglich Klima besser abschneidet als eine Flugpassage, positiv zu werten. Ob es eine wirklich gute Nachricht ist? Kommt drauf an.

Worauf?
Wenn sich das neue Angebot wirtschaftlich selber trägt, ist es eine gute Nachricht. Sonst nicht.

Der aktuelle SBB-Chef Vincent Ducrot sagte im Sommer 2021 zur «Sonntagszeitung», dass Nachtzüge nie profitabel sein werden. Ergo sind sie nicht selbsttragend.
In diesem Falle also: Schlechte Nachricht.

«Nachtzüge stehen tagsüber leer herum, was auf die Wirtschaftlichkeit drückt.»

Benedikt Weibel, Ex-Chef SBB

Sie sind Bähnler mit Leib und Seele. Trotzdem kritisieren Sie Nachtzüge in ihrer heutigen Ausprägung. Das ist ja angesichts der grünen Welle fast schon Frevel.
Dazu zwei Dinge: Ich bin zwar ein Bähnler, aber ich war nie ein Bahn-Ideologe. Will heissen: Jedes Verkehrsmittel hat seine Rolle und Chance. Und: Es gibt wohl nur wenige Leute in Lande, die öfters Nachtzug gefahren sind als ich. Von der Schweiz nach Paris oder nach Brüssel: x-mal nachts gereist. Von Moskau nach Peking per Bahn: Ebenfalls nachts im Zug absolviert. Oder der Talgo nach Barcelona: War das herrlicher Nachtzug!

Trotz aller Liebe kritisieren Sie Nachtzüge. Was ist das Problem?
Zum einen stehen die heutigen Nachzüge tagsüber leer herum, was stark auf die Wirtschaftlichkeit drückt. Beim «Zarengold» war das noch anders: Diese Züge wurden nach der Nachtreise auf Tagesbetrieb umgerüstet, was problemlos möglich war.

Und zum zweiten?
Mit dem schweren und teuren Rollmaterial werden zu wenig Menschen befördert. Die Bahn ist immer dann stark, wenn sie viele Menschen aufnehmen kann. Ein Zug kann über 1000 Menschen befördern, bei einem klassischen Nachtzug sind es nur 300.

Amsterdam Prinsengracht Reiseblog Internaut Interview
Amsterdam per Nachtzug: Da jubelt die Klimajugend. Benedikt Weibel jubelt nicht. (Bild: Unsplash)

Trotzdem liebt die Klimajugend den Nachtzug. Und Klimaerwachsene ebenso.
Der Nachtzug ist heute leider blosse Symbolpolitik. Und ein Beispiel für eine Symbolpolitik, die nicht hinterfragt wird.

Sie waren federführend dabei, als Deutsche Bahn, ÖBB und SBB Ende der 80er Jahr Nachtzug-Doppelstöcker unter der Marke City Night Line lancierten. Warum hat das damals nicht geklappt?
Einfache Antwort: Aufgrund des gleichzeitig anziehenden Booms der Billigflieger war das Thema City Night Line quasi über Nacht tot. Leider.

Die Rolle der ÖBB ist interessant: Sie verabschiedete sich damals als erste vom City Nightline – und surfte dann aber mit dem Nightjet als erste wieder mit auf der neuen Nachtzug-Welle. Weshalb?
Das hat wohl verschiedene Gründe. Einer davon könnte sein, dass die ÖBB immer recht gut mit Staatsgeldern eingedeckt war und ist.

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Passt der Nachtzug überhaupt in die Corona-Zeit?
Natürlich ist das aktuell wegen der gewünschten Privatsphäre keine einfache Sache. Aber wir sollten die Zukunft nicht nur aufgrund der heutigen Situation planen.

Haben Nachtzüge Ihrer Meinung nach eine Zukunft?
Gute Chancen haben sie auf jeden Fall. Immerhin bietet diese Form von Mobilität einige Vorteile: Man kommt von Innenstadt zu Innenstadt. Es ist breit akzeptiert, eine obligatorische Reservationsgebühr zu bezahlen. Was es erlaubt, per smartem Revenue Management die Preise zu steuern. Und aufgrund der Klimadiskussion sind die Passagiere bereit, einen gewissen Aufpreis gegenüber der Variante Flug zu bezahlen. Es geht einfach darum, kreativer mit dem Thema Nachtzug umzugehen.

In welcher Art?
Bezüglich Konzeption von Nachtzügen bin ich nicht der Profi. Aber es scheint mir klar, dass man, um auf eine genügende Menge an Passagieren zu kommen, Doppelstöcker einsetzen sollte. Und natürlich muss man sich beim Nachtzug endlich vom Bett verabschieden.

«Eine Bar braucht es. Der Rest ist Nonsense.»

Benedikt Weibel, Ex-Chef SBB

Spielt das Bett nicht die tragende Rolle?
Besser wären Sitze, die sich nachts für Schlafwagen in eine flache Position bringen lassen – und danach leicht wieder für den Tagesbetrieb hergerichtet werden können. Wenn Sie mit einer Airline in der Business-Class nach Südafrika fliegen, haben Sie auch kein Bett – sondern einen guten Sitz, der sowohl flach als auch ein aufrechter Form funktioniert.

Im Internaut-Interview skizzierte Railtour-Chef Werner Schindler einen Nachtzug, der gastronomisch top, einfacher buchbar und mit Entertainment-Elementen bestückt ist. Macht das Sinn für Sie?
Eine Bar braucht es. Der Rest ist Nonsense. Showküchen und Bühnen haben in Nachtzügen ebensowenig Platz wie grosszügige Abteile mit Duschen. Jeder verfügbare Quadratmeter muss den Passagieren zur Verfügung stehen, nur so lässt sich Eigenwirtschaftlichkeit erreichen.

Warum ist es so zentral, dass Nachtzüge rentabel sind? Gesellschaft und Politik könnten ja auch zum Schluss kommen, dass man diese Art der nachhaltigen Mobilität fördern und subventionieren darf.
Dann müsste man sich die Frage stellen, ob bei einem alternativen Einsatz dieser Subventionen nicht mehr CO2-Ausstoss vermieden werden könnte.

«Als Bahnchef würde ich mir etwas Sorgen machen, dass ein System wie Booking.com happige Provisionen absaugt.»

Benedikt Weibel, Ex-Chef SBB

Ein weiteres Thema: Oft gibt es Kritik an den Preisen. Ist die Bahn zu teuer oder die Fliegerei zu billig?
Fliegen ist heute extrem günstig. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich das in Zukunft ändern wird. Hoffentlich aber nicht so, dass das Fliegen zum Schluss nur noch für die Elite erschwinglich ist.

Nachtzug von Zürich nach Amsterdam, 12. Dezember 2021.
Kurz vor Abfahrt am 12. Dezember 2021: Erster Nachtzug von Zürich nach Amsterdam. (Bild: Internaut)

Warum sind eigentlich internationale Bahntickets bis heute nicht so einfach zu vergleichen und zu buchen wie wir es bei Hotels und Flügen auf Expedia, Booking.com oder Trivago kennen?
Weil es die Bahnen in all den Jahren nicht hinbekommen haben. Ich vermute, dass es in Zukunft zwar eine Lösung geben wird, diese aber nicht von den Bahnen selber stammen wird.

Von wem sonst?
Es gibt schon Lösungen von privaten Playern. Bei Google Maps fehlt nur noch die Ticket-Funktion. Als Bahnchef würde ich mir etwas Sorgen machen, dass ein solches System wie Booking.com happige Provisionen von 20 Prozent und mehr absaugt.

Wien mit Prater Interview der Internaut ein Reiseblog wie kein anderer.
Benedikt Weibels City-Vorliebe: Lieber Wien als Amsterdam. (Bild: Unsplash)

Mit welchem Verkehrsmittel würden Sie für ein Weekend nach Amsterdam reisen?
Muss es unbedingt Amsterdam sein? Oder geht auch Wien?

Okay, dann halt Wien.
Ein Weg mit dem Nachtzug. Aber nicht beide Strecken.

Warum nicht beide Wege?
Erstens weil mir der Nachtzug – Stichwort kleine Nasszelle und fehlende Dusche – zu wenig hygienisch ist. Und zweitens, weil ich gerne tagsüber Zug fahre. Am liebsten im Speisewagen, bei einem herrlichen Kaiserschmarrn.

*Der promovierte Betriebswirtschafter und diplomierte Bergführer Benedikt Weibel, Jahrgang 1946, kam 1978 zu den SBB und war von 1993 bis 2006 Chef der Schweizer Staatsbahnen.

2002 bis 2007 amtete Mobilitäts-Experte Benedikt Weibel als Verwaltungsrat der staatlichen französischen Eisenbahngesellschafdt SNCF und von 2008 bis 2022 war er Präsident des Aufsichtsrates der privaten österreichischen Westbahn, die zwischen Wien, Linz und Salzburg verkehrt.

Nachtzug Kulturbeutel der ÖBB im Nightjet von Zürich nach Berlin. Kritik an hohen Preisen im Jahr 2023.
Kulturbeutel im Nachtzug, Kritik an teuren Tickets: Hohe Preise der ÖBB für Fahrten im Nightjet erhitzen die Gemüter. (Internaut)

Update 2023: Nachtzüge werden massiv teurer, Benedikt Weibel meldet sich wieder

Im Dezember 2023 berichtet der Schweizer «Tages-Anzeiger» (TA, Abo) in einem Artikel, dass sich Tickets in den Nachtzügen massiv verteuern. Kurz darauf meldet sich der ehemalige SBB-Generaldirektor Benedikt Weibel in einem TA-Interview wieder zu den Schwierigkeiten des Nachtzugs.

Weibel glaubt, dass die österreichische Staatsbahn ÖBB «die Zeit der grossen Nachfrage ausnützt, um per dynamischer Preisbildung die Preise zu erhöhen».

Im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» wiederholt der Bahn-Profi einiges, was Internaut-Leserinnen und Leser schon von obenstehendem Gespräch wissen. Die Schwierigkeiten im Verkehr des Nachtzug sieht Weibel vor allem darin, dass das Angebot pro Zug zu klein sei und dass die Züge den Tag über nur herumstehen. Es brauche ein Umrüstkonzept, damit die Nightjets auch am Tag fahren könnten.

So wie das Konzept heute aussehe, brächten Nachtzüge dem Klima nichts, sagt Weibel in seiner Kritik. Ergo: «In einen Nachtzug sollte man keinen einzigen Subventionsfranken stecken.»

Autor:in

Andreas Güntert

Andreas Güntert

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Seit 1994 erforscht und beschreibt Andreas Güntert hauptberuflich als kritischer Sympathisant der Wirtschaft die Schnittstellen von Konsum, Gesellschaft und Reise-Industrie. Als Reiseblogger der Internaut lotet er das Reise-Internet aus. Der Internaut ist ein Storyteller – unabhängig, munter, pointiert. Und immer seinen Leserinnen und Lesern verpflichtet.

Kommentare

2 Kommentare
  1. Joachim Holstein

    Herrn Weibels Behauptungen über Nachtzüge werden auch durch Wiederholungen und Updates nicht richtiger. Seine ganze Kalkulation, die den Nachtzug als wenig effektiv darstellen soll, ist grundfalsch. Er sagt:

    »Ein Zug kann über 1000 Menschen befördern, bei einem klassischen Nachtzug sind es nur 300.«

    Im Tages-Anzeiger nannte er die Zahl 254 für die Plätze im neuen ÖBB-Nightjet.

    Nun, dies sind die Zahlen für eine 7-teilige Komposition aus 2 Schlafwagen, 3 Liegewagen und 2 Sitzwagen. Sie ist 200 Meter lang. Der Tageszug mit 1.000 Plätzen ist aber ein 400 Meter langer Zug, zum Beispiel ein TGV Duplex in Doppeltraktion.

    Dieser Vergleich ist also unlauter. Benedikt Weibel hätte als Verhältnis 500 zu 1.000 (oder auch nur 800 bis 900, je nach Ausführung des Tageszuges) nennen müssen – und ein klassischer Nachtzug, in dem die Schlafwagen 36 statt 20 und die Liegewagen 60 statt 40 Plätze haben, kommt sogar auf rund 750 Plätze.

    Durch diese Manipulation, 200 Meter Nachtzug mit 400 Metern Tageszug zu vergleichen, bricht der Rest der Argumentation im Grunde von selbst in sich zusammen. Es ist schade, dass Presseagenturen und andere Medien auf diesen Trick hereingefallen sind und somit das, was Leserinnen und Leser auch des Internaten zu wissen glauben, gar nicht zutrifft.

    Beim europäischen Netzwerk »Back on Track«, das sich für mehr grenzüberschreitende Züge bei Nacht und bei Tage einsetzt, gibt es genügend kompetente Gesprächspartner, die gerne bereit sind, Mythen durch Fakten zu ersetzen.

    Antworten
    • Andreas Güntert

      Danke für diese Rückmeldung. Der Internaut bleibt dran am Thema. Gruss und beste Wünsche für 2024, -andreas aka der Interanaut-

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